War früher alles besser?

Heute wurde auf Watson, einer Schweizer Online-Zeitung, DIESER Text veröffentlicht, und er gab mir zu denken. Ja, früher war fast jede Station bedient; man konnte dort Billette nach fast überall hin kaufen, konnte Gepäck aufgeben und wenn es einmal harzte, war jemand aus Fleisch und Blut vor Ort, der weiterhelfen konnte. Somit war früher als besser.

Wirklich? Anhand des Beispiels meines letzten Post möchte ich der Sache auf den Grund gehen.

Ja, Guarda war damals, Ende der Siebzigerjahre, Anfang der Achtzigerjahre besetzt. Nicht vom ersten Zug am Morgen, bis zum letzten Zug spät am Abend, aber man konnte dort Billette kaufen, Gepäck aufgeben, oder solches in Empfang nehmen und andere Dienste in Anspruch nehmen. Damals waren beispielsweise die Retour-Billette nur zehn Tage gültig, gegen eine Gebühr konnten diese allerdings verlängert werden. Weil wir meistens drei Wochen dort gesömmert wurden, mussten wir diesen Dienst dann jeweils in Anspruch nehmen.

Heute ist Guarda nicht mehr bedient; es steht ein Ticketautomat vor dem Aufnahmegebäude, der den Kundenkontak herstellt, und mein Velo könnte ich auch nicht mehr mit der Bahn von Zürich HB nach Guarda schicken lassen.

Auf der anderen Seite fährt heute von Morgen früh, bis spät am Abend jede Stunde ein Zug von Guarda in Richtung Unterland und nach Scuol. Das Postauto von Guarda Staziun nach Guarda Dorf, weit oben am Berg, bietet Anschluss an jeden Zug, der in Guarda ankommt, oder von dort abfährt. Nicht schlecht, wenn man bedenkt, dass man heute, dank dem Vereina-Tunnel auch viel schneller und mit mindestens einmal weniger umsteigen nach Zürich gelangt. Kein Vergleich zu damals, als bestenfalls alle zwei Stunden ein Zug fuhr und man immer den Umweg über Samedan nehmen musste. Weil Guarda, Ardez, Susch, Zernez, Lavin und alle anderen Bahnhöfe im Engadin von irgendwo aus ferngesteuert werden, braucht es für den eigentlichen Bahnbetrieb auch kein Personal mehr vor Ort.

Und die App auf meinem Smartphone erlaubt es mir ständig meinen Fahrplan präsent zu haben. Wenn‘s den einmal nicht wie am Schnürchen laufen sollte: die App weiss eine Lösung. Aber das kommt in der Schweiz so wie so selten vor.

Natürlich vermisse ich als bekennender Nostalgiker beispielsweise Stangenloks vor Personenwagen, bei denen ich mir den Fahrtwind am offenen Fenster durch die Haare wehen lassen konnte. Allerdings finde ich eine Klimaanlage bei den derzeitigen Temperaturen recht angenehm; moderne Loks fahren zudem ruhiger und verbrauchen weniger Energie. Geschlossene WC-Systeme in den Wagen, welche die menschlichen Ausscheidungen aus dem Verdauungstrakt nicht auf Bahnhöfe, Strecken und in Tunnels verteilen, sondern bei sich behalten, sind doch eigentlich auch ein Fortschritt?

Früher war nicht als besser und auch nicht schlechter. Es war anders und die Prioritäten sind nicht mehr die gleichen.


Kommentare

Beliebte Posts