Heimreise

Meine Familie hatte das Glück, die Sommerferien oft in einem wunderschön gelegenen Ferienhaus im Unterengadin verbringen zu dürfen. Die Fahrt dorthin - und natürlich auch wieder heimwärts - war jeweils ein richtiges Abenteuer, zumal wir mit der Bahn dorthin fuhren, und der Vereinatunnel noch nicht gebohrt war. Dieser beschleunigt die Reise ins Unterengadin um einiges, im Gegensatz zur Fahrt über die kurvenreiche Albulastrecke mit obligatorischem Umsteigen in Samedan.


Jetzt, im Sommer 2024, bin ich eine solche Heimreise nochmals abgefahren. Allerdings im aktuellen Rollmaterial von RhB und SBB. Mein Gepäck ist heute etwas weniger voluminös, und das Meerschweinchen im mit Heu ausgebetteten Weidekörbchen ist auch nicht mehr dabei.


In meiner Erinnerung fand so ein Reisetag wie folgt statt: Das Haus wurde am Vortag gründlich bis in die hinterste Ecke geputz, und der Kühlschrank war weitgehend leergefuttert. Es blieben nur noch die Dinge für das Zmorge am Reisetag und Sandwiches als Proviant übrig. Man musste ab diesem Zeitpunkt das Haus fast durch einen Autoklaven betreten. Die Losung: keinen Schmutz mehr ins Haus bringen!



Am Abreisetag herrschte schon früh morgens eine grosse Aufregung; man musste ja man frühstücken, die Medikamente gegen Reisekrankheit einnehmen, im Haus alle Lichter löschen, Wasserhähne zudrehen, Fenster schliessen und die Fensterläden verrammeln. Und das alles mit einer Deadline im Hinterkopf: die Abfahrt des Zuges in Guarda Staziun. Der Taktfahrplan wurde erst in den Achzigerjahren eingeführt und wenn man den angepeilten Zug verpasst hätte, wäre viel viel später zuhause angekommen.



Das Häuschen lag natürlich nicht in Guarda selbst, somit musste man mit Sack, Pack und Meerschweinchen zuerst nach Guarda Posta wandern, von wo man von Herr Willy - Personalunion Postautohalter, -Chauffeur und Direktor der Kantonalbank-Filiale im Ort - in seinem Postauto nach Guarda Staziun heruntergefahren wurde. Herr Willys Postauto war zu meiner grossen Enttäuschung nicht gelb, sondern beige. Ich habe dann später einmal gelesen, dass nur die originalen Postautos gelb waren, die Busse der Unternehmen, die im Auftrag der Post fuhre, waren in der Farbe von Herr Willys Steyr lackiert.



Mit viel Glück konnte man sich den Sitzplatz gerade neben Herr Willy ergattern und dann die Fahrt aus Fahrerperspektive mitverfolgen. Ich glaube mich zu erinnern, dass er dass Tü-ta-to!-Horn vor den Kurven mit dem Fuss betätigte.

Guarda Staziun sieht 2024 fast noch so aus, wie ich es in Erinnerung habe. Heute eine unbediente Staziun sür dümonda, war es damals noch besetzt. Mit was für Rollmaterial wir den Weg das Engadin hinauf angetreten haben, weiss ich nicht mehr; wahrscheinlich waren es die Fliegenden-Rhätier-Triebwagen des Typs Be 4/4. Ich kann mich allerdings bei anderer Gelegenheit an eine GmP in der Station Ardez erinnern: Ge 6/6‘ - das rhätische Krokodil - mit einem Wagen mit offenen Platformen und diversen Güterwagen im Schlepp. Leider war es nicht der Zug, den wir nehmen mussten…



Ich war damals vielleicht zehn, maximal zwölf Jahre alt und ein Angsthase par excellence. Darum war die Fahrt das Engadin hoch und dann über den Albula wieder hinunter nicht so vergnüglich wie heutzutage. Ich weiss noch, dass Umsteigen in Samedan immer mit Stress verbunden war: alle Familienangehörige, das Gepäck und das Meerschweinchen mussten von einem Perron auf ein anderes wechseln und nichts und niemand durfte dabei verloren gehen.


Wir waren immer erfolgreich. Einmal, wir fuhren in der ersten Klasse, hatten wir keine Plätze in einem Abteil zusammen. Ich und das Nagetier wurden vis-a-vis einer sehr mondänen, älteren Dame platziert. Ich bin sicher es war in einem alten Stahlwagen, die Plüschsitze waren flauschig und durchgesessen. Trotz meines damaligen Fliegengewichts verschwand ich fast zwischen roten Textilfasern und dem Staub der letzten sechs Jahrzehnte. Meine Platznachbarin kam vermutlich aus Sankt Moritz, trug ständig eine riesige Sonnenbrille und ein wahrscheinlich teures Kopftuch aus Seide. Sie fand offenbar an meinem jungen Ich mit Meerschweinchen gefallen und wir trieben Smalltalk. Sie fragte mich nach meinem Namen, ich nannte ihn und fragte natürlich, wie sie heisse. Das sei ein Geheimnis!



Keine Ahnung, ob ich damals - nach drei Wochen Unterengadin - tatsächlich einer prominenten Dame von Welt gegenüber sass. Wahrscheinlich nicht, wahrscheinlich spielte sie einfach, dass sie jemand sei.


Nach den Kurven, Kehren und Spiraltunnels zwischen Preda und Thusis war mir jeweils übel, und dann kam schon bald der nächste Höhepunkt der Reise: in Chur von der Rhätischen Bahn auf die Schweizerischen Bundesbahnen umsteigen. Meine fünfköpfige Familie - diversen Rucksäcken, Koffern und ein Meerschweinchen in einem geflochtenen Körbchen - mussten wieder das Perron wechseln. Ich vermute die Fahrpläne waren so gestaltet, dass die Chancen sehr gross waren, dass mehrköpfige Familien mit allem was dazugehört die Anschlusszüge erwischten. 


Sobald die ganze Familie in den Zug Richtung Zürich verladen war, schwitze ich jeweils Blut. Mein Vater beschloss dann nämlich, dass er nochmals aus dem Zug steigt, um für die ganze Familie, Glace oder heisse Würstchen zu organisieren. Was wenn Papi den Zug nicht erwischt? Es geht noch zwanzig Minuten! Ganz gescheite Angehörige der Menschheit haben behauptet, dass Zeit nicht immer gleich schnell vergeht. Klein Ich in Chur im Schnellzug nach Zürich hätte diese Theorien mit vollster Überzeug unterschreiben.



Mein Papi kam natürlich immer rechtzeitig, bevor der Abfahrtspfiff ertönte wieder im Zug. Entweder hatte er Glace dabei - ein Erdbeer-Cornet für mich - oder mehrere Kartontellerchen mit Wienerchen, Thomi-Senf und Brotscheiben. Und Rivella gegen den Durst.


Ja, ich bin sicher vor dem Zug hing oft eine Ge 6/6 Il, eines dieser sechsachsigen Kraftpakete, welche für die zahlreichen und schweren Transporte im Zusammenhang mit den Kraftwerksbauten beschafft wurden. An die Ge 4/4 II kann ich mich auch noch erinnern, diese sehen nämlich wie eine zu heiss gewaschene Re 4/4 II aus. Und eine solche besass ich als Modell von Jouef. 


Mir ist klar, die RhB hat primär den Leistungsauftrag den Bewohnern des Bündnerlandes zuverlässige und pünktliche Bahnverbindungen anzubieten. Das macht sie vorzüglich und davon wird auch fleissig gebrauch gemacht. Es gibt auch nichts gegen Allegras und Capricorns einzuwenden. Die Züge mit den zu heiss gewaschenen Re 4/4 II und Einheitswagen dahinter, werde ich vermissen. Unter anderem, weil man bei diesen Wagen die Fenster öffnen und sich die Gerüche Graubündens um die Nase wehen lassen konnte. Gottseidank werden solche Wagen noch als Ergänzung den Albulagliederzügen und den Capricons angehängt.

(Und ja, mir hat es natürlich wieder einmal den Satz verkrugelt. Keine Ahnung, wie ich das ändern kann. Darum: Sorry dafür…)

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