In der Wildnis gestrandet
Es verhält sich nämlich so: ich bin mit Astrid Lindgren und Selma Lagerlöf aufgewachsen. Natürlich kenne ich die Beiden nicht persönlich, aber ihre Bücher waren Teil meiner Kindheit. Später kamen dann noch Lars Gustafsson und August Strindberg dazu. Letzteren habe ich allerdings nie richtig verstanden; ich war wohl zu jung.
Frau Lindgren, Frau Lagerlöf, die beiden Herren Gustafsson und Strindberg, die Bildern im IKEA-Katalog und die Rc-Loks von Fleischmann, sind dafür verantwortlich, dass mich meine erste grössere Reise ohne elterliche Aufsicht nach Schweden führte.
Nach dieser ersten Reise 1986 per Interrail, folgten noch ganz viele andere. Ich kann gar nicht mehr sagen, wie oft ich inzwischen dort war.
An eine, oder an einen Teil davon, kann ich mich jedoch noch sehr gut erinnern. Es muss anfangs der Nullerjahre gewesen sein, und ich habe Nora besucht. Nora ist in diesem Fall keine Frau, sondern eine Stadt in der Region von Bergslagen, einer Gegend mit uralter Tradition im Bergbau. Seit Jahrhunderten wurden dort alle möglichen Erze abgebaut und in der neueren Zeit per Eisenbahn abtransportiert. In Nora befand sich das Fadenkreuz einiger dieser Bahnlinien und der Betriebsmittelpunkt von Nora-Bergslags-Järnvägen.
Heutzutage buddelt dort niemand mehr nach Erzen, und die Bahnlinien wurden obsolet. Wenn man allerdings übers Land und durch die Wälder fährt, begegnet man immer wieder Spuren vom vergangenen Bergbau und dessen Eisenbahnen.
In Nora selbst hat sich die Nora-Bergslags-Veteranjärnvägen niedergelassen, und rund um den Bahnhof direkt am See, gibt es alles was das Herz des Eisenbahnfreunds begehrt, inklusive grossflächiger Werkstattanlagen mit Rundlokschuppen und Drehscheibe.
Die NBVJ hat sich eine riesige Sammlung an Rollmaterial aus allen Epochen der NBJ zusammengetragen. Sie besitzt beispielsweise mit den etwas zwischen Y6 und Y8 aber auch Rollmaterial, das seine Vergangenheit bei den Schwedischen Staatsbahnen hatte. Die erwähnten Triebwagen können praktisch als Nachfolger des SJ-Equivalents meines Padda betrachtet werden und waren ab den Fünfzigern auf fast allen Strecken von ganz weit oben im Norden bis in den Süden unterwegs. Es gab - neben passenden Post-, Güter- und Steuerwagen - sogar schmalspurige Versionen davon.
Als ich damals in Nora auf dem Bahnhof herumlungerte, wurde gerade einer dieser Triebwagen in Betrieb genommen. Im Bahnhofsbüro erfuhr ich, dass an diesem Tag zwei Fahrten auf dem Programm stünden. Eine kürzere und eine etwas längere mit Kaffeehalt an einem Bahnhof weit weg von Nora. Ich habe postwendend beide Fahrten gebucht.
Das „Klack-Klack Klack-Klack“, wenn die acht Räder des Triebwagens über die Verschraubung von zwei Schienen rollten; den Ton des Horns, mit dem der Triebwagen unser Erscheinen an Bahnübergängen ankündigte. Der Geruch aus Diesel, heissem Motorenöl und allem, was sich im Innern eines solchen Triebwagens über die Jahre angesammelt hat. Im Innern abgewetzter Fünfziger-Jahre-Charme; draussen, vor den teilweise schon etwas trüben Fenstern: Schweden.
Alles zusammen unvergesslich.
Die zweite, längere Fahrt endete im Bahnhof Järle, mit einem schwedischen Picknick rund um den Bahnhof. Mit Kaffee aus der Thermosflasche, Smörgasbröd und farbigen Cremetorten.
Während des ganzen Picknicks dieselte der Motor von Scania-Vabis im Innern des Triebwagens friedlich vor sich hin. Der Triebwagenführer erzählte mir im Laufe des Tages einmal, dass der Anlasser Probleme bereite. Wahrscheinlich liess er den Motor laufen, um zu verhindern, dass wir weit weg von jeglicher Zivilisation stranden, in einem defekten Triebwagen zwischen Heidelbeeren, Birken und allerlei krabbelnder Fauna.
Nach dem die Thermoskrüge leergetrunken und die letzten Brösmeli von Cremetorten und Smörgasbröder ihren Weg in die anwesenden Mägen gefunden hatten, war die Rückfahrt angesagt. Alle Fahrgäste, gross, klein und vierbeinig, waren wieder im Y6 verladen, und der Lokführer wollte seinen Zug in Richtung Nora beschleunigen. Der Motor wollte aber nicht. Es wurden einige aufgeregte Worte auf schwedisch gewechselt, die ich zwar nicht alle verstand, ich bekam aber soviel mit: es hat keinen Diesel mehr im Tank! Ganz und gar leer. Nun herrschte Ruhe in Järle.
Eine solche Ruhe, wie es sie nur in skandinavischen Wäldern gibt.
Da die Mobilfunktechnologie in Schweden schon damals vorzüglich ausgebaut war, konnte man nach diesem Malheur in Nora um Hilfe bitten. Diese kam nach einiger Zeit in Form einer Frau in einem Ford Fiesta und einem Kanister gefüllt Diesel. Hurra, wir waren gerettet! Die Gefahr, die kurze Sommernacht weit draussen zwischen Elchen, Bären, Wölfen und Ameisen verbringen zu müssen, war gebannt. Die Dame war mit ihrem Ford Fiesta gleich wieder über die staubigen Landstrasse davongebraust, und der Lokführer machte sich daran, seinem Triebwagen das lebenswichtige Elixier zu verabreichen.
Doch, halt, stopp! Was ist den hier schon wieder los? Es entwickelten sich wieder eine ganz und gar nicht geerdete Stimmung beim Triebwagen, ganz speziell rund um die Tanköffnung. Nicht im Einklang mit dem sonst friedlichen Ambiente rundherum.
Treibstoff war jetzt zwar genug vorhanden, um die Strecke Järle - Nora sorglos in Angriff nehmen können. Allerdings fehlte mit dem Einfüllstutzen ein ganz entscheidender Teil für einen erfolgreichen Prozessablauf.
Nochmals mit dem Bahnhof in Nora Kontakt aufnehmen? Nochmals die Dame mit ihrem Ford Fiesta durch die Wälder Västmanländs zu jagen? Ganz zu schweigen von lebenslangen Spott, dem der Lokführer innerhalb der NBVJ ausgesetzt gewesen wäre. Nein, eine pragmatische MacGyver-Lösung war gefragt! Ich stellte meine auf schwedischem Qualitätspapier gedruckte Broschüre über die NBVJ zur Verfügung, aus der wir gemeinsam den passenden Trichter bastelten. Den Missing Link zwischen Motor, Triebstofftank und den Diesel in einem bis oben gefüllten Kanister.
Es hat tatsächlich funktioniert! Zum zweiten Mal innerhalb einer Stunden hatten wir wieder Hoffnung; in uns und in die Technik! Bei dieser Aktion gelangte zwar eine nicht unerhebliche Menge Diesel entweder ins Erdreich des Bahnhofs von Järle, oder ins Gewebe meiner Jeans, aber dennoch genug in den Tank, damit alle Beteiligten wieder in die Zivilisation mit all ihren Annehmlichkeiten fahren konnten. Meine Finger und Hosen rochen in den folgenden Tagen penetrant nach Diesel. Dieser Geruch erinnerte mich stets daran, was für eine heroische Tat wir alle gemeinsam geleistet haben, um Mütter, Kinder und Hunde aus der bedrohlichen, schwedischen Wildnis wieder zurück zu ihren Geliebten bringen.
Nach diesem Abenteuer wollte ich natürlich ein Modell eines Y6 in meiner Sammlung. Es wurden dann sogar zwei, eines mit Motor und eines als Dummy, und ein passender Gepäckwagen dazu.
Diese Modelle stammen von Jeco, aber wahrscheinlich aus Gehäuseformen von einem Hersteller, den es seit Menschengedenken nicht mehr gibt. Schön sind sie trotzdem, und bei mir persönlich mit den Erinnerungen an ein ganz spezielles Abenteuer verbunden.
Auf der Rückfahrt von Järle nach Nora durfte ich dann sogar im Führerstand neben den Lokführer Platz nehmen. Auf den Fahrten zuvor war mir dies verwehrt geblieben; aus Sicherheitsgründen dürfen sich auf der Fahrt nur Eisenbahn-Mitarbeiter dort aufhalten. So einer war ich inzwischen ja auch fast... 😉
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